Verborgene Trauer – wenn Trauer gesellschaftlich nicht anerkannt ist

von Blogparade, Trauer6 Kommentare

TABU-Talk: Über dieses Tabu möchte ich endlich offen reden!

Eine Blogparade, ins Leben gerufen von meiner wunderbaren Kollegin Genrose Sehr:

https://generose-sehr.at/ueber-tabu-endlich-offen-reden

Ein Thema, mit dem Generose bei mir offene Türen einrennt. In meiner täglichen Arbeit erlebe ich, was es mit Menschen macht: DIE Themen, die kollektiv unter dem Teppich gehalten werden. Über die keiner spricht. Die besetzt sind mit Angst, Traurigkeit, Scham und Schmerz.

Einem dieser Tabus widme ich diesen Blogbeitrag:

Verborgene Trauer – wenn Trauer gesellschaftlich nicht anerkannt ist

Abwesend sitzt sie an ihrem übervollen Schreibtisch.

Sie wirkt planlos, fahrig, überfordert und schreckt jedes Mal zusammen, wenn das Telefon klingelt.

Die sonst so freundliche, clevere und schlagfertige Frau steht völlig neben sich.

Was ist passiert?

Sie möchte nicht darüber reden. Reagiert mit Flucht oder wird aggressiv.

Erst sehr viel später vertraut sie sich mir an…

Die Geschichte dahinter

Viele Jahre lang hatte sie eine Liebesbeziehung mit einem verheirateten Mann. Sie hat sich damit arrangiert, ihr Leben um seinen Terminkalender, seine Familie und seine Karriere herumgebastelt. Er war ihre große Liebe. Nur wenige in ihrem Leben wussten von dieser Verbindung. Zu groß die Angst davor, verurteilt und angegriffen zu werden.

Er starb bei einem Autounfall und ihre Welt blieb schlagartig stehen. Es gab niemanden, mit dem sie darüber reden könnte. Fehltage auf der Arbeit konnte sie sich nicht leisten. Erklärungen nicht liefern.

Ein Abschied auf seiner Beerdigung blieb ihr verschlossen.

Sie hatte kein Recht auf ihre Trauer. Sie war nur (s)eine Geliebte.

Wie Trauer zu sein hat…

Es gibt viele gesellschaftliche Konventionen, wie und wann Trauer erlebt und ausgedrückt werden darf.

Wenn ein Mensch lebensbedrohlich erkrankt, ein Kind vermisst wird oder eine Person plötzlich und unerwartet verstirbt, ist das Umfeld oft tief betroffen und voller Mitgefühl. Jeder hat Verständnis für die Trauer der Angehörigen.

Die schmerzliche Situation der Betroffenen passt in die gesellschaftliche Trauernorm. Verzweiflung und Traurigkeit werden anerkannt, sie dürfen weinen, wütend sein und sich zurückziehen. 

Zumindest bis zu einem gewissen Punkt…

Wenn Trauer gesellschaftlich nicht anerkannt ist

Besonders schwierig ist die Situation für die, deren Trauer gesellschaftlich nicht anerkannt wird.

Immer wieder kommt es vor, dass ein Mensch tiefe Trauer durchlebt, nach Meinung des Umfeldes jedoch kein Recht dazu hat. Dafür kann es zahlreiche Gründe geben. Etwa, wenn der Verlust als wenig bedeutend eingestuft wird. Das kann der Fall beim Verlust eines schwer kranken Menschen wie einem Wachkoma-Patienten, dem Tod eines/einer Ex-Partner/in oder auch bei der Trauer um ein geliebtes Haustier sein.

Auf wenig Verständnis treffen auch Menschen, deren Beziehung zum/zur Verstorbenen nicht anerkannt war, beispielsweise bei heimlichen Liebesbeziehungen. Ebenso wie die Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben.

Es ist ein harter Prozess, wenn andere das Recht auf Trauer absprechen oder Trauer sozial sanktioniert wird. Menschen, ohne „Recht“ zu trauern, tun dies im Verborgenen. Sie erleben sich in ihrem Leid alleingelassen und nicht gesehen. 

Versteckte-oder-verborgene Trauer. Verzweifelte-Frau-auf-schwarzem-Hintergrund-hinter-einem-Mann.

Die offizielle Definition von aberkannter oder verborgener Trauer

„Obwohl eine Person Trauerreaktionen durchlebt, hat sie aus Sicht des sozialen Umfeldes kein Recht zu trauern und keinen Anspruch auf Mitgefühl oder soziale Unterstützung.“ (Kenneth Doka 2008)

Was können die Gründe dafür sein?

  • Die Beziehung ist sozial nicht anerkannt (z. B. getrennte Partner oder heimliche Liebesbeziehungen)
  • Der Verlust gilt nicht als schwerwiegend (z. B. Schwangerschaftsabbrüche, Fehlgeburten oder Tod eines Haustieres)
  •  Der Person wird die Fähigkeit zu trauern abgesprochen (z. B. kleine Kinder oder Menschen mit geistiger Behinderung)
  • Todesart/ Todesumstände wirken stigmatisierend (z. B. Suizid, AIDS oder Tod durch Drogenkonsum)
  • Die individuelle Form, Trauer zu zeigen, wird sozial abgelehnt (z. B. zu kurze oder zu lange Trauer, Gefühlsausbrüche statt Haltung oder zurückhaltende Gefühle, wo Emotionen erwartet werden)

Es sind gesellschaftlich unausgesprochene „Regeln“.

Allgemein anerkannte Vorstellungen davon, welche Reaktionen, Gefühle, Gedanken, Verhaltensweisen angemessen sind und erwartet werden.

Bei stigmatisierten Erkrankungen wie beispielsweise durch AIDS oder bei einem Tod durch Drogenkonsum verhindern viele Tabus eine Begleitung der Trauernden durch Freunde und Familie. Denn, was schon zu Lebzeiten tot geschwiegen wurde, hat oft auch nach dem Tod keinen Platz. 

Die Konsequenzen für Trauerende sind dramatisch: Sie haben kaum Möglichkeiten, ihren Gefühlen Raum zu geben und finden keine Ansprechpartner, um ihre Trauer auszudrücken. Dabei gibt es keine richtige und falsche Trauer!

Auch wenn das Verhältnis zu Lebzeiten schwierig und ambivalent war, kann der Tod ein einschneidender Verlust sein. Hier ist Feingefühl und Einfühlungsvermögen wichtig. Auch was von außen unangemessen erscheinen mag, ist Ausdruck einer tiefen Empfindung. Im Umgang mit Hinterbliebenen sollte daher unbedingt der Trauernde im Mittelpunkt stehen und nicht die Probleme der Vergangenheit.

Wichtig ist es, das Recht auf Trauer nicht abzusprechen. Das gilt auch für Kinder, hochbetagte und kognitiv eingeschränkte Menschen.

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Trauerheilung & Wege zur Selbsthilfe

Durch eigenen Erfahrungen und intensiven Gespräche mit Trauernden habe ich mich eingehend mit den Themen Tod und Trauer auseinandergesetzt. Dabei begegnete ich den Büchern von Dr. Elisabeth Kübler-Ross, einer schweizerisch-amerikanischen Psychiaterin, die als Wegbereiterin der modernen Sterbeforschung gilt.

Elisabeth Kübler-Ross widmete sich mit außergewöhnlicher Hingabe dem Tod, dem Umgang mit Sterbenden, der Trauerarbeit und den Erfahrungen am Rande des Lebens. Ihre Bücher haben mich berührt und meine Sicht auf das Leben und den Tod verändert.

Der Tod gehört untrennbar zum Leben. Wenn ein geliebter Mensch uns verlässt, ist er nicht wirklich fort – er ist an einem anderen Ort, wo bereits jene sind, die ihm vorausgegangen sind.

Meine Buchempfehlung für Trauernde: „Über den Tod und das Leben danach“ von Elisabeth Kübler-Ross.

Heilsames Schreiben kann so wertvoll für Trauernde sein.

Anregungen dazu findest du in meinem Blogbeitrag:

https://www.a-lamprecht-loewe.de/schreiben-als-trauerarbeit

Ein lieber Mensch in deinem Umfeld trauert und du bist unsicher, wie du damit umgehst?

Wirf dazu unbedingt einen Blick in diesen Blogbeitrag:

https://www.a-lamprecht-loewe.de/umgang-mit-trauernden 👣

6 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag zu diesem Tabu-Thema. Diese „Tabu-Blogparade“ erscheint mir sehr wertvoll. Durch diesen Beitrag wurde mir bewusst, dass ich genau das gegenteilige Tabu erlebt habe: Von mir wurde beim Sterben und Tod meines Mannes Trauer erwartet und ich war stattdessen einfach nur wütend. Wütend, weil er so früh so schlimm krank wurde (in meinem ersten Schwangerschaftsmonat), dass mein Leben komprimiert und konzentriert jahrzehntelang zu anstrengend war. Die Wut war auch ein Tabu. Denn auf jemanden wütend zu sein, der krank ist und nicht mehr leben darf, ist „unmoralisch“. Heute gestalte ich mein Leben so, dass ich so viel wie möglich freie Lebenszeit habe – damit hole ich nach, was ich in der Hektik der vergangenen Jahrzehnte entbehrt habe.

    Antworten
    • Vielen Dank für deine Erfahrungen dazu, liebe Sabine.

      Die Wut ist Bestandteil des Trauerprozesses. Und noch verständlicher in deiner damaligen Situation. Ohne Wut gibts keine Heilung. Auch meine Erfahrungen sind, wie von dir geschildert: Diese Emotion ist ein Tabu. Unmoralisch. Wut führt zu kollektivem Unverständnis und entspricht keinesfalls den gesellschaftlichen Regeln.

      Ich freue mich, dass du das thematisierst!

      Ganz viel freie, bewusste und erfüllte Lebenszeit für dich.

      Antworten
  2. Liebe Anja, danke für diesen wertvollen Blogartikel. Ja, es stimmt. Es gibt eine gesellschaftliche Norm für Trauernde. Danke, dass du darauf aufmerksam machst und auch dafür eintrittst, dass alle Menschen ein Recht auf ihre Trauer haben, ganz egal, ob es von außen nachvollziehbar ist oder nicht.
    Ich werde diesbezüglich auch meine eigene Sicht schärfen und vor allem meine Wortwahl beobachten. „Naja, er war ja schon ganz alt und voll krank.“ ist ein Satz, den oft verwende, wenn ich über den Tod meines Vaters spreche.
    Also danke!!

    Alles Liebe, Generose

    Antworten
    • Liebe Generose,

      so auch die Botschaft meines Blogbeitrages: eine andere Sichtweise und die Wahrnehmung dafür, dass eine Wertung oder ein Urteil bei Trauer nicht hilfreich ist. Dass das eigene Empfinden über den Tod eines Menschen sich nicht zwangsläufig mit dem Gegenüber deckt. Und wie schnell es zu (mentalen) Verletzungen kommen kann, auch wenn das nicht beabsichtigt ist.

      Ein riesiges Dankeschön dafür, dass du mit deiner Blogparade eine Plattform für dieses und viele weitere TABU-Themen bietest.

      Ganz liebe Grüße,

      Anja

      Antworten
  3. Ihr Artikel hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Finde mich da in der Situation selbst wieder. Danke für diesen Beitrag

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    • Danke für dein Feedback dazu, lieber Oliver.

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